Musikland Nigeria

Der Freiburger Cellist und Dirigent Walter-Michael Vollhardt ist neben seinen regelmäßigen Aktivitäten in Lateinamerika seit 2009 auch bei verschiedenen Musikprojekten in Nigeria engagiert.

Im Folgenden schildert er seine Eindrücke:

Die Musical Society of Nigeria (MUSON) ist die prestigereichste Ausbildungsstätte Nigerias in Lagos.

Die School of Music besteht aus einem vorberuflichen Ausbildungszweig und einer Diploma School für Berufsstudenten.

Obwohl für alle Orchesterinstrumente Diplomabschlüsse angeboten werden, gibt es nicht für alle Instrumente Lehrer – geschweige denn gute.

Ein Schwerpunkt der Ausbildung liegt im vokalen Fach.

Nigeria ist ein Land grandioser Naturstimmen und vieler sängerischer Begabungen.

Das ausgeprägte Musikleben in den Kirchengemeinden mit seinem überwältigenden Gemeindegesang bietet dafür die besten Voraussetzungen.

In der sängerischen Ausbildung hat der Operngesang großes Gewicht.

Das Opernstudio der School of Music – Comic Opera House – arbeitet mit seinem in Europa ausgebildeten Leiter Jo Oparamanuike auf höchstem Niveau.

Auch der Chor ist bereits auf internationalen Wettbewerben ausgezeichnet worden.

Das MUSON Symphony Orchestra setzt sich aus Absolventen und den aktuell besten Studenten der School of Music zusammen.

Durch eine mangelhafte Versorgung mit guten Instrumentallehrern – es gibt nur zwei Lehrer für die Streicher und zwei für die Bläser! – sind die meisten jungen Musiker auf ihre autodidaktischen Fähigkeiten angewiesen.

Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass ich als Principal Guest Conductor dieses Orchesters trotz all dieser Einschränkungen etliche Meilensteine der Orchesterliteratur, aber auch viele unbekannte Orchesterwerke nach intensiver Probenarbeit auf sehr beachtlichem Niveau mit diesen Musikern aufführen konnte.

Freilich durften da auch Hits wie Conquest of Paradise, Tico Tico oder das populäre Water no get enemy der nigerianischen Jazzlegende Fela Kuti nicht fehlen.

Bedauerlicherweise sieht sich MUSON wirtschaftlich nicht in der Lage, ein durchgehend arbeitendes und angemessen bezahltes Orchester zu halten.

Auf diese Weise sind die Musiker gezwungen, hauptsächlich von ihren Einnahmen als Musiklehrer und Kirchenmusiker zu leben.

Dies wiederum macht die zeitliche Vereinbarkeit  mit Orchesterprojekten sehr schwierig , was häufig zu unregelmäßigen Probenbesuchen führt und eine konstante Orchesterarbeit extrem erschwert.

Musikalisch jedenfalls wäre das Orchester durchaus in der Lage, sich jeden Monat mit einem neuen Konzertprogramm zu präsentieren; selbst im Opernbereich wären dafür gute Voraussetzungen gegeben.

Bleibt zu wünschen, dass sich langfristig Sponsoren dafür einsetzen werden, das immense Potential engagierter junger Musiker für eine kulturelle und gesellschaftliche Bereicherung dieser Megacity zu nützen.

Diese jährliche Operngala wurde von der charismatischen chilenischen Sängerin Maria Cecilia Toledo 2009 in Abuja ins Leben gerufen.

Das musikalische Herzstück der OPERABUJA ist der grandiose AMEMUSO Choir (Abuja Metropolitan Music Society) unter Leitung seines engagierten Gründers Samuel Ezugwu.

Gleich beim ersten Projekt der Operabuja, bei dem ich als Musikalischer Leiter eingeladen war, stand die erste szenische Aufführung der Oper Carmen auf dem Programm – in einer originellen nigerianischen Textbearbeitung und mit hervorragenden Solisten.

Eine davon war die damals in Paris studierende Omo Bello, die kurz danach beim Internationalen Pavarotti-Gesangswettbewerb in Italien mit dem 1. Preis ausgezeichnet wurde und seitdem auf den großen Opernbühnen der Welt zu erleben ist.

Auch Sound of music, die Zauberflöte sowie My fair lady waren Highlights an stimmlichen und schauspielerischen Leistungen des AMEMUSO Chores .

Die selbstentworfenen Kostüme überstiegen bei jeder Produktion alles, was man von einem Wiener oder Pariser Opernball her an Eleganz kennt.

Man hat in Nigeria das Gefühl, dass das Schöne eines der zentralen Werte im Leben dieser Gesellschaft ist – nicht nur zum Glanz nach außen, sondern auch zur Erhöhung des eigenen Lebensgefühls sehr geschätzt.

Dieser Aspekt ist besonders augenscheinlich, wenn man selbst in Slums elegant gekleidete Frauen mit Stolz aus den verfallensten Häusern treten sieht.

Beim AMEMUSO Chor ist das Probenumfeld jedoch recht ungewöhnlich: geprobt wird übers Jahr in einem trockenen und nüchternen Konferenzraum des großzügigen Nobelhotels Transcorp Hilton.

Neben seinen vielen Festauftritten hat der Chor bei der OPERABUJA in der angrenzenden Congress Hall einen überaus repräsentativen Rahmen, zu dem hauptsächlich geladene Gäste aus Politik, Wirtschaft und den internationalen Vertretungen eingeladen sind.

In Ermangelung eines Orchestergrabens muss für jede Produktion der OPERABUJA eine Bearbeitung der Partitur für kleines Ensemble angefertigt werden, da neben den Solisten und dem Chor nur wenige Musiker auf der Bühne Platz haben.

Klanglich wird dieses Defizit jedoch von professionellen Tontechnikern immer vorbildlich gelöst.

Allerdings bleibt diese festliche Aufführung bedauerlicherweise der Durchschnittsbevölkerung von Abuja auch nach zehn Jahren immer noch vorenthalten.

Beim Festival of Praise, das wenige Tage vor Weihnachten den musikalischen und gesellschaftlichen Höhepunkt in der Hauptstadt Nigerias darstellt, bilden ca. 5-6 Chöre einen imposanten Massenchor von ca. 400 Sängerinnen und Sängern.

Das Programm erstreckt sich oft über 4 Stunden, da nicht nur Highlights der klassischen Oratorienchöre aus dem Messias und der Schöpfung, sondern auch viele Psalmen und Hymnen zur Aufführung kommen – nicht zu vergessen populäre Weihnachtslieder, bei denen das Orchester auswendig und vielstimmig die 2000 Zuhörer im Saal begleitet.

Auch eine meist humorvolle Ansprache von einem Priester darf da nicht fehlen.

Regelmäßig werden auch Gastchöre zu diesem Festival of Praise eingeladen. Wiederholt war es der jugendliche Chor des Blindenheims von Abuja, der mit seinem sensiblen Klang die Zuhörer zu Tränen gerührt hat.

Ich selbst durfte diesen Blindenchor schonmal in seinem bescheidenen Heim besuchen und war fasziniert davon, mit welcher Konzentration diese vom Schicksal getroffenen Jugendlichen in ärmlichster Umgebung ihre ganze Seele auf die Musik lenken und damit ihrem Chorgesang einen unverwechselbaren Ausdruck verleihen.

Ob beim Festival of Praise, der OPERABUJA oder dem MUSON Symphony Orchestra, überall teilen zunehmend Menschen aus allen Bevölkerungsschichten Nigerias ihre Liebe zur klassischen Musik, meist mit großen zeitlichen Opfern, was die stundenlangen, zermürbenden Verkehrsstaus angeht, aber immer mit einer beneidenswert positiven Lebenseinstellung, die auch in kritischen Situationen immer Raum für Improvisation und Humor lässt. Aus dieser Kraft lassen sich für einen Nigerianer fast alle Hindernisse meistern und geben enthusiastischen Antrieb zu stetigem Lernen, sich Verbessern und Weiterkommen.

Die großartigen Begabungen von jungen Instrumentalisten und Sängern, die ich in den zurückliegenden 12 Jahren begleiten durfte, haben es verdient, unseren Fokus auf Nigeria nicht ausschließlich von Sünden in der Ölwirtschaft oder Verbrechen durch die Terrorgruppe Boko Haram verdecken zu lassen.

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